Moderne und zeitgenössische Kunst verstehen in 5 Schritten
Ihr mögt Kunst, wisst aber manchmal nicht, wie das Ganze anpacken? Damit seid ihr nicht allein. Dieser Artikel gibt euch das nötige Handwerkszeug, um auch mit auf den ersten Blick unverständlicher Kunst klar zu kommen. Dazu braucht ihr nicht unbedingt einen Magister in Kunstgeschichte. Eine gute Herangehensweise ist die halbe Miete.
Kunst gibt keine Antworten, sondern stellt Fragen
Doris Titze beschreibt, wie das Betrachten zeitgenössischer Kunst zur Quelle des Ärgers werden kann, da der Betrachter Antworten verlangt, von der Kunst aber keine bekommt, sondern diese noch mehr Fragen stellt. Das können wir nun als Gehässigkeit zeitgenössischer Kunst auffassen. Oder aber wir nutzen diese besondere Eigenschaft von Kunst, um selbst etwas schlauer zu werden. Wenn wir das ästhetische Objekt nämlich als Werkzeug zum Erkenntnisgewinn auffassen, kann es unser gedankliches Repertoire bereichern.
Das übliche Szenario
In der Regel beurteilen wir Werke mehr oder weniger bewusst nach zwei Kriterien und das noch bevor es seine ganze Wirkung auf uns entfalten kann.
„Gefällt es mir oder nicht?“
Können wir dieses Kriterium nicht mit der nötigen Befriedigung bejahen, verwerfen wir das Werk und wandern zum nächsten, das uns besser gefällt oder mit dem wir mehr anfangen können. Auf den persönlichen Geschmack zu hören würde ich euch dringend empfehlen, wenn ihr Kunst für euer Wohnzimmer kauft. Auch ich habe Werke, die mich geradezu anfallen und ich liebe sie. Bei einem Ausstellungsbesuch sollte es jedoch nicht vorrangig um ein Gefallen oder Nicht-Gefallen gehen.
„Was soll es darstellen?“
Die zweite gängige Frage lautet, was das denn sein soll. Diese Frage hat uns erst die klassische Moderne und die mit ihr einhergehende Abstraktion eingebracht. Als Kunst noch durchgängig realistisch und gegenständlich war, war sie einfacher zu beantworten. In diesem Zusammenhang sollten auch die Assoziationen erwähnt werden. Mit dem Abstrakten konfrontiert, entstehen im Kopf des Betrachters oft Heerscharen an Bildern. Mit diesen Deutungen versucht der menschliche Intellekt das Unordenbare einzuordnen und zu deuten. Zu meinen eigenen abstrakten Arbeiten bekomme ich von Betrachtern regelmäßig jede Menge gegenständliche Assoziationen zu hören, die mir im Leben nicht selbst eingefallen wären.
An und für sich sind sowohl die Frage des Geschmacks als auch der Wunsch nach Deutung vollkommen in Ordnung und legitim. Meist stellen wir sie jedoch zu früh, verbunden mit einer Bewertung und verstellen uns damit den Weg, das Werk wirklich zu verstehen. Auch Assoziationen sind super. Wir sollten uns bloß dessen bewusst sein, dass sie unsere eigenen, und als solche erst einmal subjektiv sind.
Die 5 Schritte
Am besten funktioniert Kunst, wenn wir unsere Wertungen und Deutungen erst einmal hintenan stellen. Das könnte dann so aussehen: Nehmt euch ein Werk vor, das euch besonders anspricht. Dann beobachtet und analysiert es gelassen in folgenden fünf Schritten. Es gibt dabei kein Falsch oder Richtig. Vielmehr geht geht es um die reine Beobachtung.
- Bleibt objektiv
Die größte Herausforderung liegt darin, über gewohnte Denkmuster hinauszuwachsen. Also nehmt euch genügend Zeit und versucht im Hinblick auf das Werk vollkommen objektiv und offen zu bleiben. - Beschreibt die Farbe
Welche Farben sind im Werk enthalten? Welche Qualität haben sie? Gibt es Kontraste? Sind sie knallig und springen euch an? Oder sind sie dezent und zurückhaltend? - Beschreibt die Form
Welche Formen sind im Werk vorhanden? Ist alles eckig und wild? Oder fließt alles harmonisch ineinander? - Erforscht euer Gefühl
Welche Stimmung herrscht eurer Meinung nach im Werk? Wie wirkt es auf euch und was macht es mit euch? Fühlt ihr euch eingehüllt? Oder macht es euch aggressiv? Habt ihr spontane Assoziationen zum Werk? - Eine Prise Hintergrundwissen
Lest euch ein wenig gesellschaftliches und kunstgeschichtliches Hintergrundwissen an. In welcher Gesellschaft lebt/e der Künstler? Was beschäftigt/e ihn? Das muss kein ganzes Fachbuch sein, oft reicht der Ausstellungsflyer, ein Artikel im Art Magazin oder Wikipedia. Ihr könnt auch an einer Führung teilnehmen. Die meisten Museen bieten regelmäßig kostenlose Führungen an, die im Museumseintritt enthalten sind. Oder sucht euch eine nette Begleitung, die sich etwas auskennt. Ich selbst spicke Ausstellungsbesuche gerne mit ein paar Eckdaten und Anekdoten über den Künstler. Das macht das Werk greifbarerer und begeistert sogar Menschen, die von sich aus nicht ins Museum gegangen wären.
Für Bilder und Skulpturen funktioniert diese Art der Kunstbetrachtung im Grunde immer. Mit etwas Übung könnt ihre es auch für Installationen, Konzeptkunst und andere Genres anwenden. Eines aber ist sicher, ihr werdet ein ganzes Stück über euch selbst hinauswachsen. Deshalb: An die Kunstwerke, fertig los! Meine ganz persönlichen Kunsttipps findet ihr hier und noch mehr davon auf Facebook und auf Twitter.
Übrigens
Die Herangehensweise an Kunst lehre ich in dieser Form auch seit Jahren meinen Klienten, Workshop-Teilnehmern und Studierenden. Über diesen Weg hat die Kunst schon einigen unerwartete Aha-Momente beschert.
Bei den oben abgebildeten Fotografien handelt es sich um eine meiner Arbeiten. Mehr davon im Portfolio.
Eine schöne Zusammenfassung, danke! Ich würde bei den Herangehensweisen noch eine Frage ergänzen: „woran erinnert mich das?“ Diese Frage öffnet einerseits den Blick auf kunstgeschichtliche Zusammenhänge, andererseits aber auch auf das eigene Erleben und Erinnern.